
„O Oriens“ – Licht, das in die tiefste Nacht fälltvor 3 Stunden in Spirituelles, keine Lesermeinung Druckansicht | Artikel versenden | Tippfehler melden
Gedanken zur O-Antiphon des 21. Dezember. Von Archimandrit Dr. Andreas Thiermeyer
Eichstätt (kath.net) O Oriens, splendor lucis aeternae, et sol iustitiae: veni, et illumina sedentes in tenebris et umbra mortis.
„O Aufgang, Glanz des ewigen Lichtes, Sonne der Gerechtigkeit:
komm und erleuchte, die in Finsternis und im Schatten des Todes sitzen.“
1. Ein Licht, das nicht von uns her aufgeht
Mein Lieben,
mitten in der dunkelsten Zeit des Jahres, wenn die Tage kurz und die Nächte lang sind, lässt die Kirche einen Ruf erklingen, der klingt wie der erste, kaum hörbare Atemzug eines neuen Morgens:
„O Oriens – O Aufgang.“
Nicht: „Wir schaffen Licht.“
Nicht: „Wir holen die Sonne zurück.“
Sondern: „O Aufgang“ – du kommst uns entgegen.
Der Name Oriens ist reich an Bedeutungen:
Er heißt Morgenröte, Aufgang, das Licht im Osten, der Stern, der den Tag ankündigt. Die Väter verbinden ihn sofort mit dem Prophetenwort:
„Das Volk, das im Dunkel lebt, sieht ein großes Licht.“ (Jes 9,1)
Wenn die Kirche also O Oriens singt, geschieht etwas Großes und zugleich sehr Einfaches:
Sie erkennt an, dass das Licht zuerst von Gott herkommt.
Nicht aus den Lampen unserer Vernunft, nicht aus dem Schein unserer Erfolge, nicht aus der Glut unserer Emotionen.
Advent ist die Zeit, in der die Kirche bekennt:
Ich erfinde den Morgen nicht – ich empfange ihn.
2. Christus, die Sonne, die Gerechtigkeit bringt und heilt
Die Antiphon nennt Christus „sol iustitiae“ – die Sonne der Gerechtigkeit.
Ein Ausdruck aus Maleachi, den die Väter liebten.
Warum Sonne?
• Weil sie alles ans Licht bringt, was im Dunkeln liegt.
• Weil sie heilt: „mit Heilung in ihren Flügeln“, sagt der Prophet.
• Weil sie Wachstum schenkt, Leben ermöglicht, den Frost vertreibt.
Hieronymus sagt treffend:
Christus wird „Sonne der Gerechtigkeit“ genannt,
„weil er offenbar macht, was gut und böse ist – und weil er heilt, was verwundet ist.“
Diese Sonne brennt nicht – sie wärmt.
Sie richtet nicht in Rechthaberei – sie richtet im Sinne des wieder-Gerade-Richtens.
Sie vernichtet nicht – sie verwandelt.
Patristische Autoren, besonders im Osten, sehen in dieser Sonne das Bild der Auferstehung:
Ein Licht, das nicht mehr untergeht.
Ein Tag, der kein Abend mehr kennt.
Eine Sonne, die in der Nacht der Welt aufgeht und sich nicht zurückzieht. 
Wenn die Antiphon Christus „splendor lucis aeternae“ – Glanz des ewigen Lichtes – nennt, dann meint sie:
Dieses Licht ist kein vorübergehender Schein, sondern die Strahlung Gottes selbst.
Wer Christus sieht, sieht den Glanz des Vaters.
3. Licht, das besucht – nicht nur belehrt
Zacharias kündigt im Benedictus an:
„Durch die barmherzige Liebe unseres Gottes wird uns besuchen das aufstrahlende Licht aus der Höhe.“ (Lk 1,78)
Besuchen – welch zartes Wort.
Es sagt: Gott bleibt nicht fern.
Er schickt keinen Lichtstrahl aus der Distanz.
Er kommt selbst.
Er setzt sich neben uns, dorthin, wo wir sitzen – in Dunkelheit, Müdigkeit, Angst.
Viele der Väter sagen:
Das Licht Christi ist nicht nur Erkenntnis, sondern Gegenwart.
Es ist eine Person.
Es ist nicht nur die Beseitigung der Nacht, sondern die Erfahrung:
In der Nacht bin ich nicht allein.
Wer O Oriens betet, ruft also nicht in die Leere, sondern in die Nähe:
„Komm – und sei Licht, indem du bei mir bist.“
4. Die Menschen, die sitzen – ein Bild für die ganze Welt
Die Antiphon zitiert fast wörtlich Lk 1,79:
„…die in Finsternis und im Schatten des Todes sitzen.“
Das Verb ist wichtig: sitzen.
Nicht gehen, nicht kämpfen, nicht suchen.
Sitzen – bewegungslos, erschöpft, resigniert.
Viele Menschen heute sitzen in solcher Dunkelheit:
• Menschen mit Depressionen, die keinen Morgen mehr spüren.
• Trauernde, deren Welt stillsteht.
• Opfer von Gewalt, Krieg, Missbrauch – erstarrt im Schatten des Todes.
• Menschen, die sich selbst verloren haben – in Schuld, Abhängigkeit, Zerrissenheit.
O Oriens ist kein Triumphlied über die Finsternis.
Es ist der Ruf der Sitzenden – derer, die nichts mehr gestalten können, aber noch hoffen.
Der Advent ist voller Lichter, aber O Oriens erinnert:
Wir zünden Kerzen an – weil wir die Dunkelheit ernst nehmen, nicht weil wir sie leugnen.
5. Ein kosmisches Gebet – zur Wintersonnenwende
Dass O Oriens am 21. Dezember gesungen wird, ist ein geistliches Kunstwerk:
Es ist der kürzeste Tag, die längste Nacht.
Mitten in diese Nacht hinein ruft die Kirche:
O Aufgang – komm!
Die Schöpfung selbst predigt an diesem Tag:
Jetzt wird das Licht wieder länger.
Jetzt beginnt ein neuer Jahreslauf.
So wird die Antiphon zu einem Sakrament der Zeit:
Die äußerste Dunkelheit wird zum Ort des ersten Lichtes.
Der Kalender selbst wird zur Katechese.
Man könnte sagen:
O Oriens ist die Antwort der Kirche auf die tiefste Dunkelheit:
Nicht Verzweiflung – sondern Erwartung.
Nicht erst das Licht – sondern schon die Hoffnung auf den Morgen.
6. Ein Gebet für eine zerrissene Welt
Wenn wir heute „O Oriens“ beten, tun wir es nicht allein für uns.
Wir tun es stellvertretend für eine Welt voller Finsternis:
• für die Kinder in Kellern und Luftschutzbunkern,
• für Familien auf der Flucht,
• für Gesellschaften, die sich im Hass verlieren,
• für Menschen ohne Wohnung, ohne Hoffnung, ohne Halt,
• für Kirchen, die ihre eigene Dunkelheit spüren – Missbrauch, Vertrauensverlust, Spaltungen.
Dieses Gebet ist eine Fürbitte für die Nacht.
Eine Einladung an Christus, die Dunkelräume der Menschheit aufzusuchen, nicht zu übergehen.
Und es ist eine Mahnung an uns:
Wer O Oriens betet, muss selbst kleine Lichter anzünden – durch Trost, Gerechtigkeit, Aufmerksamkeit, Wahrheit, Versöhnung.
Das Licht, das wir herbeirufen, bittet uns, selbst Lichtträger zu werden.
7. Schluss: Aufstehen in den Morgen der Gnade
Zum Abschluss dürfen wir die Antiphon in ein persönliches Gebet verwandeln:
O Aufgang,
Morgenröte Gottes,
Glanz des ewigen Lichtes,
Heilige Sonne der Gerechtigkeit:
sieh auf unsere Dunkelheit –
auf die Nacht der Welt,
auf die Nacht unserer Herzen,
auf die Nacht unserer Kirche.
Komm in die Räume, in die wir kein Licht lassen,
komm zu denen, die nur noch sitzen können,
komm zu denen, die nicht mehr glauben,
komm zu denen, die sterben.
Erleuchte uns –
nicht mit grellem Schein,
sondern mit deinem leisen Morgen,
der die Nacht durchdringt,
und mit einem Tag beginnt,
der nicht mehr vergeht.
O Oriens –
unser Morgen,
unser Trost,
unser Christus.
Komm.
Archimandrit Dr. Andreas-Abraham Thiermeyer ist der Gründungsrektor des Collegium Orientale in Eichstätt. Er ist Theologe mit Schwerpunkt auf ökumenischer Theologie, ostkirchlicher Ekklesiologie und ostkirchlicher Liturgiewissenschaft. Er studierte in Eichstätt, Jerusalem und Rom, war in verschiedenen Dialogkommissionen tätig. Er veröffentlicht zu Fragen der Ökumene, des Frühen Mönchtums, der Liturgie der Ostkirchen und der ostkirchlichen Spiritualität. Weitere kath.net-Beiträge von ihm: siehe Link.
Symbolbild (c) Pater Andreas Fritsch FSO
Ihnen hat der Artikel gefallen? Bitte helfen Sie kath.net und spenden Sie jetzt via Überweisung oder Kreditkarte/Paypal!

LesermeinungenUm selbst Kommentare verfassen zu können müssen Sie sich bitte einloggen. Für die Kommentiermöglichkeit von kath.net-Artikeln müssen Sie sich bei kathLogin registrieren. Die Kommentare werden von Moderatoren stichprobenartig überprüft und freigeschaltet. Ein Anrecht auf Freischaltung besteht nicht. Ein Kommentar ist auf 1000 Zeichen beschränkt. Die Kommentare geben nicht notwendigerweise die Meinung der Redaktion wieder. kath.net verweist in dem Zusammenhang auch an das Schreiben von Papst Benedikt zum 45. Welttag der Sozialen Kommunikationsmittel und lädt die Kommentatoren dazu ein, sich daran zu orientieren: "Das Evangelium durch die neuen Medien mitzuteilen bedeutet nicht nur, ausgesprochen religiöse Inhalte auf die Plattformen der verschiedenen Medien zu setzen, sondern auch im eigenen digitalen Profil und Kommunikationsstil konsequent Zeugnis abzulegen hinsichtlich Entscheidungen, Präferenzen und Urteilen, die zutiefst mit dem Evangelium übereinstimmen, auch wenn nicht explizit davon gesprochen wird." (www.kath.net) kath.net behält sich vor, Kommentare, welche strafrechtliche Normen verletzen, den guten Sitten widersprechen oder sonst dem Ansehen des Mediums zuwiderlaufen, zu entfernen. Die Benutzer können diesfalls keine Ansprüche stellen. Aus Zeitgründen kann über die Moderation von User-Kommentaren keine Korrespondenz geführt werden. Weiters behält sich kath.net vor, strafrechtlich relevante Tatbestände zur Anzeige zu bringen. |