Der Augenblick Gottes: Die Begegnung von Papst Paul VI. und Patriarch Athenagoras

26. November 2025 in Chronik


Rom und die Orthodoxie im Licht der Begegnung von Papst Paul VI. und Patriarch Athenagoras in Jerusalem 1964. Von Archimandrit Dr. Andreas-Abraham Thiermeyer


Jerusalem (kath.net) Begegnung von Papst Paul VI. und Patriarch Athenagoras – Jerusalem 1964 – Als Einstieg möchte ich eine wunderbare Begebenheit vorausschicken:

Am 5. Januar 1964, trafen in Jerusalem Papst Paul VI. (1897-1978) und der griechisch-orthodoxe Ökumenische Patriarch von Konstantinopel, Athenagoras (1886-1972), zusammen. Das italienische Fernsehen schnitt damals aus Versehen das persönliche Gespräch zwischen den beiden mit, später wurde es in der Zeitschrift „Das Prisma“ (München) in der deutschen Übersetzung von Peter Klasvogt veröffentlicht und von „Christ in der Gegenwart“ übernommen. 

Für mich ist dieses Gespräch immer noch zutiefst bewegend und ich hoffe und bete, dass diese brüderliche Einheit zwischen unseren Kirchen bald einmal Realität wird: „Auf dass allen eins sind, damit die Welt glaubt!“ (Joh 17,21)

Wörtliches Gesprächsprotokoll: Man hört zuerst ein Rauschen, dann ein einsilbiger Gruß des Patriarchen.

Paul VI. schlägt vor, Englisch zu sprechen, aber sein Englisch ist nicht korrekt; er bittet dann darum, Französisch sprechen zu dürfen: Mir wird es leichter fallen. - Sprich Französisch, erwidert Athenagoras, und es folgt der kurze Wortwechsel der beiden Kirchenführer.

Paul VI.: Ich möchte Ihnen meine ganze Freude zum Ausdruck bringen, all meine Erregung. Wirklich, ich denke, dies ist ein Augenblick, den wir in der Gegenwart Gottes leben.
Athenagoras: In der Gegenwart Gottes! Ich wiederhole: in der Gegenwart Gottes.
Paul VI.: Und ich habe keinen anderen Gedanken, während ich mit Ihnen spreche, als den, mit Gott zu sprechen.
Athenagoras: Ich bin ganz tief gerührt, Heiligkeit, mir kommen die Tränen in die Augen.
Paul VI.: Und wie dies ein wahrer Moment Gottes ist, müssen wir ihn mit ganzer Intensität, mit ganzer Aufrichtigkeit leben und mit dem ganzen Verlangen -
Athenagoras: voranzugehen -
Paul VI.: - auf dem Weg Gottes voranzugehen. Haben Eure Heiligkeit irgendwelche Anregungen, irgendeinen Wunsch, den ich erfüllen könnte?
Athenagoras: Wir haben denselben Wunsch - Dasselbe Vertrauen, dieselbe Vorsehung
Paul VI.: Also wir repräsentieren hier zwei Wege, die sich vielleicht kreuzen.
Athenagoras: Wir haben denselben Wunsch. Als ich aus den Zeitungen erfuhr, dass Sie sich entschlossen hatten, dieses Land zu besuchen, kam mir unmittelbar der Gedanke, dem Wunsch Ausdruck zu verleihen, Ihnen zu begegnen, und ich war sicher, daß Eure Heiligkeit mir Antwort gäbe
Paul VI.: positive -
Athenagoras: positive -; weil ich Vertrauen in Eure Heiligkeit habe. Ohne Ihnen zu schmeicheln: Ich erkenne Sie in der Apostelgeschichte; ich erkenne Sie in den Briefen des heiligen Paulus, dessen Namen Sie tragen; ich erkenne Sie...
Paul VI.: Ich spreche zu Ihnen als Bruder. Wissen Sie, daß auch ich dasselbe Vertrauen in Sie habe? Ich denke, daß die Vorsehung Eure Heiligkeit auserwählt hat, um diesen Heilsplan Gottes voranzubringen.
Athenagoras: Ich denke, daß die Vorsehung Eure Heiligkeit auserwählt hat, um den Weg aufzutun...
Paul VI.: Die Vorsehung hat uns dazu auserwählt, aufeinander zuzugehen.
Athenagoras: Die Jahrhunderte haben Sie erwartet, die Jahrhunderte haben diesen Tag, diese große Freude erwartet. Was für eine Freude an diesem Ort! Was für eine Freude am Grab! Was für eine Freude auf Golgota! Was für eine Freude auf jener Straße, über die Sie gestern gegangen sind!
Paul VI.: Ich bin so voll von Eindrücken, daß ich viel Zeit brauchen werde, um all den Reichtum an Gefühlen und Emotionen auszuschöpfen und zu deuten, was in meinem Herzen ist. Ich möchte jedenfalls diesen Augenblick dazu nutzen, um Ihnen meine absolute Loyalität zu versichern, mit der ich mich Ihnen gegenüber immer verhalten werde.
Athenagoras: Dasselbe auch von meiner Seite.
Paul VI.: Ich werde Ihnen niemals die Wahrheit verhehlen.
Athenagoras: Ich werde Ihnen immer vertrauen.
Paul VI.: Ich habe nicht die geringste Absicht, Sie zu täuschen, Ihren guten Willen auszunutzen. Ich habe keinen anderen Wunsch, als allein den Weg Gottes zu durcheilen. Was mich betrifft, bleibe ich in der Haltung des Lernenden.
Athenagoras: Ich habe in Eure Heiligkeit absolutes Vertrauen. Absolut! Absolut!
Paul VI.: Ich werde mich immer bemühen...
Athenagoras: Ich werde immer an Ihrer Seite sein.
Paul VI.: Ich werde mich immer bemühen, es zu verdienen. Eure Heiligkeit soll wissen: Seit jenem Augenblick habe ich es nie versäumt zu beten, alle Tage für Eure Heiligkeit zu beten und in den gemeinsamen Anliegen, die wir haben zum Wohle der Kirche.
Athenagoras: Uns ist das Geschenk dieses großen Augenblicks gegeben worden; wir werden darum immer beisammenbleiben. Wir werden gemeinsam gehen. Daß Gott... Eure Heiligkeit, Eure Heiligkeit, von Gott dazu berufen... Der Papst mit dem weiten Herzen. Wissen Sie, wie ich Sie nenne? ho megalocardos - der Papst mit dem großen Herzen.
Paul VI.: Wir sind nur unnütze Werkzeuge ...
Athenagoras: Genauso müssen wir es betrachten!
Paul VI.: Je unbedeutender (kleiner) wir sind, desto mehr können wir als Werkzeuge dienen; das bedeutet, daß das Handeln Gottes immer im Vordergrund stehen muß, daß es Norm unseres Tuns sein muß. Was mich betrifft, bleibe ich in der Haltung des Lernenden und wünsche, dem Willen Gottes so gehorsam als möglich zu folgen und Ihnen gegenüber, Heiligkeit, so viel Verständnis als möglich entgegenzubringen, Ihnen und Ihren Brüdern und Ihrer Umgebung.
Athenagoras: Ich glaube es. Ich brauche nicht darum zu bitten, ich glaube es.
Paul VI.: Ich weiß, daß es schwierig ist; ich weiß, es sind da Empfindlichkeiten, eine andere Mentalität..
Athenagoras: ... eine Psychologie -
Paul VI.: Aber ich weiß auch...
Athenagoras: ... und das auf beiden Seiten!
Paul VI.: ... daß auch eine große Aufrichtigkeit da ist; und der Wunsch, Gott zu lieben, ihm um Jesu Christi willen zu dienen, und darauf setze ich mein Vertrauen.
Athenagoras: Darauf setze ich mein Vertrauen. Gemeinsam. Gemeinsam.
Paul VI.: Ich weiß nicht, ob es der rechte Zeitpunkt ist, aber ich sehe, daß man etwas tun müßte, das heißt zusammen zu studieren, oder jemanden zu delegieren...
Athenagoras: - auf beiden Seiten!
Paul VI.: Und ich möchte gerne wissen, welche Meinung Eure Heiligkeit, welche Meinung Ihre Kirche zur Frage der Kirchenkonstitution hat. Es ist der erste Schritt....
Athenagoras: Wir werden uns Ihrer Meinung anschließen.
Paul VI.: Ich werde Ihnen das sagen, was ich für das Richtige halte, aus dem Evangelium abgeleitet, aus dem Willen Gottes und der authentischen Überlieferung. Ich werde es Ihnen vortragen. Und sollte es Punkte geben, in denen wir nicht mit Ihrer Meinung hinsichtlich der Kirchenkonstitution übereinstimmen...
Athenagoras: Dasselbe werde auch ich tun.
Paul VI.: Man wird diskutieren; suchen wir die Wahrheit zu finden...
Athenagoras: Dasselbe auch auf unserer Seite, und ich bin sicher, daß wir immer zusammenbleiben werden.
Paul VI.: Ich hoffe, daß es leichter vonstattengehen wird, als wir annehmen.
Athenagoras: Wir werden unser Möglichstes tun.
Paul VI.: Es gibt da noch in der Lehre - von unserer Seite - zwei oder drei Punkte, in denen eine Entwicklung festzustellen ist...
Athenagoras: In der Liebe Jesu Christi.
Paul VI.: Noch etwas anderes, was nebensächlich erscheinen könnte...
Athenagoras: Dasselbe auch auf meiner Seite.
Kein Denken an Prestige, um Primat...
Athenagoras: Wie sind Sie mir lieb in der Tiefe meines Herzens!
Paul VI.: ...aber zu dienen!
Athenagoras: Ja, Hand in Hand – für immer!

1. Die Umarmung von Jerusalem: Anfang eines neuen Zeitalters
Die Szene im Januar 1964 in Jerusalem ist mehr als ein historischer Moment – sie ist ein theologisch aufgeladenes Symbol. Paul VI. und Athenagoras sprechen nicht als Vertreter zweier Institutionen, sondern als Brüder, die einander „mit Tränen in den Augen“ begegnen. In ihrer schlichten, zutiefst geistlichen Sprache schwingt etwas vom Geist der frühen Kirche mit: das gemeinsame Gebet, die Bereitschaft zur Wahrheit, die gegenseitige Zuneigung, das Bekenntnis zu Christus als einziger Autorität.

Dieser „Augenblick Gottes“ eröffnet ein neues Kapitel der kirchlichen Geschichte: Er macht sichtbar, dass die tiefste ökumenische Dynamik nicht aus Dokumenten, sondern aus der Heiligkeit der Herzen kommt. Entscheidend war nicht der Ort der Begegnung allein – Jerusalem –, sondern die Art des Umgangs zweier Primaten: Demut, Liebe, geistliche Offenheit. Diese Grundhaltung bestimmt seither alle ernsthaften ökumenischen Schritte.

2. Die Vision einer Einheit, die keine Uniformität meint
Der Geist von 1964 widerspricht allen Modellen, die Einheit als strukturelle Angleichung oder Rückkehr in alte Systeme verstehen. Die Vision, die im Gespräch angedeutet wird, reicht tiefer.

2.1 Einheit ist Geschenk des Heiligen Geistes
Nicht die Kirchen machen die Einheit – sie empfangen sie. Die Worte Athenagoras’ („Wir werden immer beisammenbleiben. Wir werden gemeinsam gehen.“) zeigen das Vertrauen darauf, dass der Geist Gottes den Weg weist.

2.2 Einheit in legitimer Vielfalt
Beide Kirchen lebten im ersten Jahrtausend eine Einheit, die nicht uniform war. Sie kannten unterschiedliche Riten, verschiedene Disziplinen, unterschiedliche theologische Akzente und vielfältige Spiritualitäten, aber ein gemeinsames Bekenntnis und eine eucharistische Einheit. 1964 knüpft bewusst an diese Tradition an, nicht als Nostalgie, sondern als Orientierungspunkt für die Zukunft.

2.3 Einheit hat ein christologisches Fundament
Die Worte Jesu in Joh 17,21 sind die Leitmelodie: Einheit ist Teilhabe an der Einheit von Vater und Sohn. Deshalb ist sie kein äußerer Zusammenschluss, sondern eine geistliche Wirklichkeit, die sichtbar werden soll. Diese Perspektive bricht mit rein institutionellen Vorstellungen von Einheit.

3. Ökumenische Wegmarken seit 1964
Die historischen Schritte nach der Jerusalemer Begegnung sind nur aus ihr heraus zu verstehen. Die geistliche Atmosphäre von 1964 – Vertrauen, Tränen, Demut und aufrichtige Bruderliebe – bildet den hermeneutischen Schlüssel für alle späteren ökumenischen Entwicklungen. Nicht zufällig sprach man in der Folgezeit vom „Dialog der Liebe“, ein Begriff, der die neue Grundhaltung präzise beschreibt.

3.1 Aufhebung der „Exkommunikationen“ von 1054: 1965
Am 7. Dezember 1965 – fast genau ein Jahr nach der Begegnung in Jerusalem – lasen Kardinal Willebrands in Rom und Metropolit Meliton in Istanbul gleichzeitig den „Gemeinsamen katholisch-orthodoxen Erklärungstext“, in dem die gegenseitigen „Exkommunikationen“ des Jahres 1054 zurückgenommen wurden. Sie behauptete nicht, man könne eine halbe Jahrtausendgeschichte in einer Stunde „richten“. Sie tat etwas Bescheideneres und zugleich Größeres: Sie reinigte das Gedächtnis von Worten und Gesten, die sich im Jahr 1054 Menschen miteinander zugefügt hatten. Wichtig ist der sachliche Kern: Exkommunikation in der Kirche ist eine personale Maßnahme – gedacht als heilende Zurechtweisung, sie gilt nie einer „Kirche als Ganzes“ und endet mit dem Tod der Betroffenen. Also gab es 1965 nichts „juristisch aufzuheben“. Aber es gab etwas Tieferes zu tun: die Erinnerung heilen. Genau das geschah. Diese Zurückhaltung war keine Schwäche, sondern Weisheit. Man überforderte niemanden, man zwang nichts. Man machte Platz für Nähe, ohne die Wahrheit unter den Teppich zu kehren. Es handelte sich nicht um eine Wiedervereinigung, aber um eine symbolisch und geistlich höchst bedeutsame Heilung eines tausendjährigen „Schismas“. Die Kirchen erklärten, dass der Bann und seine spätere Erinnerung keine Bedeutung mehr haben. Damit wurde eine jahrhundertelange Last von den Schultern beider Kirchen genommen.

3.2 Wiederaufnahme des offiziellen theologischen Dialogs: 1979
Papst Johannes Paul II. und Patriarch Dimitrios I. entschieden 1979, einen „offiziellen theologischen Dialog zwischen der römisch-katholischen Kirche und der orthodoxen Kirche als Ganzem“ aufzunehmen. Dieser Dialog sollte – und soll bis heute – nicht Kompromisse produzieren, sondern die Wahrheit suchen. Dabei war klar: Der Geist von 1964 legt fest, dass der Dialog nicht in Feindseligkeit, sondern in geistlicher Freundschaft stattfindet. Die christologische, sakramentale und ekklesiologische Gemeinsamkeit des ersten Jahrtausends bildet die gemeinsame Basis.

3.3 Das Ravenna-Dokument: 2007
Das sogenannte „Ravenna-Dokument“ (2007) war ein Durchbruch. Es stellte fest, dass die Kirche sowohl synodal als auch primatial strukturiert ist und dass diese beiden Dimensionen zusammengehören. Rom wurde als „Protos“ auf universaler Ebene anerkannt – nicht in juristischer, wohl aber in ekklesiologischer Hinsicht. Dieser Konsens bereitete den Boden für spätere vertiefende Diskussionen über die konkrete Ausgestaltung des Primats und der Synodalität.

3.4 Das Chieti-Dokument: 2016
Das „Chieti-Dokument“ (2016) befasst sich mit der ekklesiologischen Struktur der Kirche im ersten Jahrtausend. Seine wesentliche Aussage lautet: Die Kirche war synodal verfasst; Rom nahm einen Primat ein; dieser Primat war jedoch in die Struktur der Synodalität eingebettet. Damit wird das Modell des ersten Jahrtausends als grundlegend für die ökumenische Annäherung bestätigt. Die Kirchen erkennen: Einheit ohne Synodalität wäre autoritär; Einheit ohne Primat wäre zentrifugal.

3.5 Die Begegnungen von Papst Franziskus und Patriarch Bartholomaios: 2014–2023
Die Begegnungen zwischen Papst Franziskus und Patriarch Bartholomaios – 2014 in Jerusalem, 2016 auf Lesbos, 2018 in Rom und 2023 erneut in Jerusalem – stehen in direkter Kontinuität zu 1964. Franziskus hat mehrfach betont, dass Einheit nicht das Ergebnis theoretischer Übereinkünfte ist, sondern das Ergebnis des gemeinsamen Unterwegsseins: „Einheit wächst, indem man gemeinsam vorangeht.“ (Franziskus). Bartholomaios, geistlicher Erbe des „Dialogs der Liebe“, und Franziskus, Erbe der ökumenischen Sensibilität seiner Vorgänger, haben diesen Bruderweg verstärkt.

In all diesen Wegmarken zeigt sich eine innere Logik: Der Geist von 1964 wirkt weiter. Jede theologische Klärung, jede neue Kommission, jedes gemeinsame Dokument steht im Schatten jenes ersten brüderlichen Kusses der Versöhnung.

4. Theologische Grundlagen der Annäherung
Die ökumenische Bewegung zwischen Rom und der Orthodoxie steht nicht auf einem vagen ökumenischen Enthusiasmus, sondern auf einer tiefen theologischen Basis. Alles, was seit 1964 geschah, wurde durch eine theologisch reflektierte Rückbesinnung auf die ersten Jahrhunderte der Kirche gestützt. Paul VI. und Athenagoras haben dies intuitiv ausgesprochen: Die Einheit gründet nicht in Abmachungen, sondern im Willen Christi und in der authentischen Überlieferung.

4.1 Orientale lumen (1995): Die Ostkirchen als Schatz der Gesamtkirche
Papst Johannes Paul II. beschreibt in diesem Apostolischen Schreiben die Ostkirchen als „Schatz der Kirche“ und unterstreicht, dass die volle katholische Identität die östlichen Traditionen einschließt. Die Metapher vom „Atem mit zwei Lungen“ bringt zum Ausdruck, dass östliche Theologie, Mystik, Ikonographie und Liturgie für die Gesamtkirche unverzichtbar sind.

In diesem Dokument klingt der Geist von 1964 deutlich nach: Die Kirche atmet mit zwei Lungen, weil Ost und West gemeinsam das Erbe der Apostel tragen.

4.2 Ut unum sint (1995): Die Bereitschaft zur Primatsreform
In seiner großen Ökumene-Enzyklika bekennt Johannes Paul II., dass die heutige Ausübung des römischen Primats geschichtlich gewachsen ist und nicht völlig identisch mit der Praxis des ersten Jahrtausends. Rom lädt hiermit die Orthodoxie zu einem gemeinsamen theologischen Gespräch ein, wie ein „Primat in der Liebe“ (Agape-Primat) aussehen kann, der für Ost und West akzeptabel ist. 

Diese Einladung ist eine der weitreichendsten Gesten der jüngeren Kirchengeschichte: Der Papst bittet die Orthodoxie, ihm zu helfen, das Papstamt so auszuformen, wie es dem gemeinsamen Erbe entspricht.

4.3 Der römische Primat im Licht orthodoxer Ekklesiologie
Die orthodoxe Kirche anerkennt grundsätzlich einen Primat – jedoch primär als Primat der Ehre (primus inter pares), nicht als universale Jurisdiktionsgewalt. Das Modell des ersten Jahrtausends ist der gemeinsame Bezugspunkt: Rom hatte einen Vorrang, aber dieser war synodal eingebettet. Es herrschte kein päpstlicher Zentralismus, wohl aber eine kirchliche Mitte. Eine neue ökumenische Verständigung würde nicht die Gleichmacherei erzwingen, sondern ein „Vorrang der Liebe“, der zugleich synodal und brüderlich gelebt wird. Diese Denkweise ist in den jüngsten Dialogdokumenten der Kommission (Ravenna 2007, Chieti 2016) klar sichtbar.

4.4 Benedikt XVI. und die Vision der synodalen Mitte
Papst Benedikt XVI. betonte mehrfach, dass eine „synodale Struktur“ zum Wesen der Kirche gehört. Er sprach sich für eine römische Primatsausübung aus, die sich stärker an der Praxis des ersten Jahrtausends orientiert und ein Gleichgewicht von Synodalität und Primat sucht. Seine Aussagen bilden eine theologische Brücke zwischen Ost und West.

4.5 Die Perspektive von Papst Franziskus
Franziskus betont, dass „Synodalität der Weg ist, den Gott von der Kirche des dritten Jahrtausends erwartet“. Dieser Satz steht im Einklang mit der orthodoxen Selbstauffassung und eröffnet Raum für Gemeinsamkeit. Franziskus versteht das Papstamt stärker als Dienst der Einheit, weniger als Machtvollkommenheit. Damit wird der Dialog mit der Orthodoxie auf eine neue, vertrauensvolle Grundlage gestellt. Insgesamt zeigt sich: Die theologische Grundlage der Annäherung zwischen Rom und der Orthodoxie ist so gefestigt wie nie zuvor seit dem Schisma.

5. Spiritualität der Ökumene – der Dialog der Liebe
Die tiefste ökumenische Dynamik zwischen der römisch-katholischen Kirche und der Orthodoxie ist nicht in erster Linie theoretisch oder institutionell, sondern geistlich. Die Begegnung von Papst Paul VI. und Patriarch Athenagoras im Jahr 1964 zeigte dies bereits exemplarisch: Ökumene beginnt im Herzen, in Tränen, in brüderlicher Zuneigung und in der gemeinsamen Ausrichtung auf Christus. Der „Dialog der Liebe“, wie man diese neue Phase später nannte, war nicht ein diplomatisches Konstrukt, sondern die Wiederentdeckung einer geistlichen Verwandtschaft, die älter ist als die Trennung.

5.1 Der Geist der Brüderlichkeit
Athenagoras und Paul VI. begegneten einander wie zwei Mönche, die – jenseits aller juristischen und historischen Belastungen – in Christus denselben Herrn und dieselbe kirchliche Sehnsucht teilen. Die Art, wie sie miteinander sprachen, lässt erkennen, dass echte Einheit nicht zuerst strukturell, sondern spirituell ist. Athenagoras sagte: „Ich werde immer an Ihrer Seite sein.“ – ein Satz, der eine theologische Tiefe besitzt, die über politisches Wohlwollen weit hinausgeht.

5.2 Wahrheit und Liebe als untrennbare Einheit
Ökumene kann nicht in bloßer Harmonie bestehen. Sie verlangt nach Wahrheit – aber nach einer Wahrheit, die in der Liebe wurzelt. Paul VI. formulierte es im Geist großer Vätertheologie: „Ich werde Ihnen niemals die Wahrheit verhehlen.“  Wahrheit ohne Liebe ist hart, Liebe ohne Wahrheit ist leer. Ökumenische Spiritualität vereint beides: den Mut zur Wahrhaftigkeit und die Bereitschaft zur brüderlichen Zuneigung. 

5.3 Gemeinsame Grundhaltungen: Gebet, Fasten, Demut
Die Spiritualität der Ökumene gründet in einer gemeinsamen asketischen Tradition, die beide Kirchen tief verbindet. Gebet, Fasten, Stille, die Feier der Eucharistie, die Verehrung der Heiligen und Märtyrer – all das schafft einen geistlichen Raum, in dem die Einheit bereits real erfahrbar ist. Besonders die „Ökumene der Märtyrer“, also das gemeinsame Zeugnis der Christen unter totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts, zeigt, dass die Einheit in Christus stärker ist als jede kirchliche Trennung.

5.4 Die Rolle der Heiligkeit
Heiligkeit ist der eigentliche Motor jeder Einheit. In allen Traditionen waren es Heilige – nicht Strategen –, die Brücken bauten. Die Heiligkeit eines Seraphim von Sarow, eines Siluan vom Athos, einer Mutter Teresa oder eines Johannes Paul II. spricht eine ökumenische Sprache, die über alle Systemgrenzen hinausgeht. Wo Heilige leben, dort wird die Kirchentrennung durchlässig.

5.5 Die pastorale Dimension: Begegnung im Alltag
Ökumene geschieht nicht nur in Dialogkommissionen. Familien, in denen Katholiken und Orthodoxe leben; Priester, die einander unterstützen; Klöster, die Pilger aus beiden Kirchen aufnehmen; gemeinsame Gebetsinitiativen und karitative Werke – all dies bildet die eigentliche Seele der Einheit. Der Dialog der Liebe ist konkret, alltagsnah und von unten gewachsen. Es zeigt sich immer wieder: Die eigentliche Kraft der Ökumene ist spirituell ist. Sie lebt aus einem gemeinsamen Christusglauben, aus dem Geist der Demut und aus dem Verlangen, der Wahrheit in Liebe zu dienen.

6. Gelebte Ökumene und gemeinsame Verantwortung
Ökumene ist nicht nur ein theologisches Projekt der Expertengremien oder eine diplomatische Aufgabe der Kirchenleitungen. Sie ist – ihrem tiefsten Wesen nach – eine gemeinsame Verantwortung für das Evangelium in einer Welt, die zunehmend von Fragmentierung, Gewalt, spiritueller Orientierungslosigkeit und kultureller Säkularisierung geprägt ist. Katholiken und Orthodoxe stehen gemeinsam vor denselben Herausforderungen und sind daher aufgerufen, mit einer Stimme zu sprechen, wo es um die Würde des Menschen, den Frieden und die Bewahrung der Schöpfung geht.

6.1 Ein gemeinsames christliches Zeugnis in einer zerrissenen Welt
Die Welt des 21. Jahrhunderts ist von Kriegen, geopolitischen Spannungen, Wirtschaftskrisen, kultureller Verunsicherung und religiösem Analphabetismus gezeichnet. In vielen Regionen ist das Christentum nicht nur Minderheit, sondern verfolgte Gemeinschaft. Gerade hier zeigt sich eine neue Form der „Ökumene des Leidens“: Christen werden nicht als Katholiken oder Orthodoxe verfolgt – sondern einfach als Christen.

Diese Realität ruft beide Kirchen zu gemeinsamem Zeugnis auf. Dort, wo katholische und orthodoxe Bischöfe und Priester gemeinsam auftreten, entsteht eine glaubwürdige Stimme: Ein Wort für den Frieden hat Gewicht, wenn es von Ost und West zugleich gesprochen wird.

6.2 Die soziale und humanitäre Dimension
Beide Kirchen tragen mit großem Einsatz zum sozialen und karitativen Dienst bei. Humanitäre Hilfswerke, Klöster, Hilfsorganisationen, Schulen und karitative Netzwerke arbeiten vielerorts faktisch bereits zusammen. 

Diese Zusammenarbeit ist nicht nur eine praktische Notwendigkeit, sondern ein Ausdruck christlicher Einheit im Dienst. Je mehr sich diese Zusammenarbeit vertieft, desto deutlicher wird sichtbar: Einheit entsteht im gemeinsamen Tun – im Dienst an den Armen, an den Verwundeten, an den Vertriebenen.

6.3 Die gemeinsame Verantwortung für die Schöpfung
Patriarch Bartholomaios I. hat als „grüner Patriarch“ weltweit Anerkennung gefunden. Seine theologischen Reflexionen über die Schöpfungsverantwortung haben das orthodoxe Denken global geprägt. Papst Franziskus hat diese Impulse – besonders in der Enzyklika Laudato si’ – aufgenommen und vertieft.

In der Sorge um die Schöpfung zeigt sich: Ost und West sprechen dieselbe Sprache – eine Sprache der Ehrfurcht, der Askese, des verantwortlichen Umgangs mit der Natur als Gabe Gottes. In der ökologischen Krise liegt eine große Chance der Einheit: ein gemeinsamer prophetischer Aufruf gegen Ausbeutung, Zerstörung und Gleichgültigkeit.

6.4 Migration, Armut und gesellschaftliche Verantwortung
Die globalen Migrationsbewegungen – verursacht durch Krieg, Hunger, Klimawandel und politische Instabilität – stellen sowohl in Europa als auch im Nahen Osten enorme Herausforderungen dar. Orthodoxe und katholische Gemeinden sind vielerorts direkt betroffen: durch Aufnahme von Flüchtlingen, Hilfsprojekte, pastorale Betreuung und gesellschaftliche Integration.

Eine gemeinsame pastorale Strategie kann hier zu einem stärkeren und glaubwürdigeren christlichen Zeugnis führen.

6.5 Theologische Bildung und geistliche Vertiefung
Ein weiterer Bereich gelebter Ökumene ist der Austausch in Bildung und Spiritualität: gemeinsame Seminare, theologische Institute, Gastprofessuren und internationale Konferenzen. Besonders wertvoll sind Begegnungen in Klöstern und geistlichen Zentren, wo die spirituelle Tradition des Ostens und die breite theologische Reflexion des Westens einander ergänzen.

Solche Kontakte fördern gegenseitige Wertschätzung und korrigieren alte Vorurteile. Junge Theologen beider Kirchen wachsen heran, die einander kennen, miteinander vernetzt sind, die sich schätzen und gemeinsam für die Einheit arbeiten.

6.6 Gemeinsame Stellungnahmen in moralischen und ethischen Fragen
In vielen moraltheologischen Fragen – Menschenwürde, Bioethik, Schutz des Lebens, Sozialethik, Friedensethik – stehen Katholiken und Orthodoxe erstaunlich nahe beieinander. Gemeinsame Erklärungen und synodale Stellungnahmen können hier eine starke Stimme in der globalen Debatte sein. 

Sie zeigen, dass die Einheit nicht nur ein theologisches Ziel ist, sondern ein gemeinsamer Auftrag in einer Krisenzeit.

Gelebte Ökumene ist bereits Realität. Sie entfaltet sich überall dort, wo Christen sich im Namen Christi begegnen, gemeinsam arbeiten und einander als Brüder und Schwestern anerkennen. Sie ist ein praktischer, pastoraler und spiritueller Weg – ein Weg, der jeden Tag weitergeht.

7. Nikaia 2025 – Eine prophetische Chance
Der 1700. Jahrestag des Ersten Ökumenischen Konzils von Nikaia im Jahr 325 bietet eine historische und geistliche Gelegenheit ersten Ranges. 

Nikaia ist nicht irgendeine Wegmarke der Kirchengeschichte; es ist der Ort, an dem die Kirche – Ost und West gemeinsam – das Bekenntnis zu Jesus Christus, dem wahren Gott und wahren Menschen, eindeutig, verbindlich und endgültig ausgestaltet hat. Es ist der Ort, an dem die Kirche ihre Identität fand.

Die geplante ökumenische Begegnung in Nikaia im Jahr 2025 hat daher das Potenzial, zu einem neuen „heilsgeschichtlichen Moment“ zu werden – ähnlich jener Begegnung von 1964 in Jerusalem. 

Beide Ereignisse verbindet die Sehnsucht nach der Wahrheit Christi, nach der Einheit der Kirche und nach der Heilung der geschichtlichen Wunden.

7.1 Chancen und Hoffnung der Begegnung zwischen Papst Leo XIV. und Patriarch Bartholomaios
Die mögliche Begegnung zwischen Papst Leo XIV. und Patriarch Bartholomaios I. im Rahmen der Nikaia-Feierlichkeiten könnte zu einer entscheidenden Wegmarke der Ökumene des 21. Jahrhunderts werden. 

Damit würde sich – geistlich betrachtet – ein Kreis schließen: Athenagoras und Paul VI. im Jahr 1964, Franziskus und Bartholomaios im Jahr 2014, und nun vielleicht Leo XIV. und Bartholomaios im Jahr 2025.

- Eine Fortführung des „Dialogs der Liebe“
Patriarch Bartholomaios ist der direkte spirituelle Erbe des Athenagoras – des Patriarchen, der den „Dialog der Liebe“ begründete. Leo XIV., in der Tradition der ökumenisch gesinnten Päpste Johannes XXIII., Paul VI., Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus stehend, könnte diesen Dialog mit neuer Strahlkraft weiterführen. Gemeinsam könnten sie eine Botschaft verkünden, die heute dringlicher ist als je zuvor: dass die Kirche nur dann glaubwürdig ist, wenn sie als Gemeinschaft des Friedens, der Demut und der Liebe auftritt.

- Eine gemeinsame Stimme für den Frieden
Die Welt des Jahres 2025 ist geprägt von Konflikten, geopolitischen Spannungen und gesellschaftlicher Polarisierung. Eine friedensstiftende Initiative, getragen von Rom und Konstantinopel gemeinsam, hätte moralisches Gewicht. Sie würde deutlich machen: Die Kirche Christi steht nicht auf der Seite von Nationalismen und Machtinteressen, sondern auf der Seite der Opfer, der Schutzlosen und der Wahrheit.

Ein brüderlicher Appell der beiden Kirchenführer könnte zu einem global wahrnehmbaren Signal werden: 
Christen dürfen nicht gegeneinander instrumentalisiert werden. Sie müssen gemeinsam für Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung eintreten.

- Neue Impulse für Synodalität und Primat
Patriarch Bartholomaios ist einer der stärksten Fürsprecher eines erneuerten Verständnisses kirchlicher Synodalität. 

Leo XIV. könnte – wie seine Vorgänger – das Papstamt in Richtung einer stärker synodalen, brüderlichen und dialogischen Ausübung weiterentwickeln. Die Begegnung in Nikaia könnte einen gemeinsamen theologischen Text anstoßen, der die Erfahrungen von Ravenna (2007) und Chieti (2016) zusammenführt und vertieft. Eine gemeinsame Erklärung zur Beziehung von Primat und Synodalität wäre ein geistlicher Meilenstein – und ein direktes Echo auf das Gespräch von 1964.

- Ein Zeichen spiritueller Einheit
Ein gemeinsames Gebet in der Basilika von Nikaia, ein gemeinsamer Segen oder ein gemeinsames Verlesen des Nicäno-Konstantinopolitanum könnte zu einer mächtigen spirituellen Erfahrung werden. Das Credo ist das tiefste Band zwischen Ost und West. Wer gemeinsam „Wir glauben…“ spricht, steht bereits real im Raum der Einheit, auch wenn diese kanonisch noch nicht vollendet ist.

- Ein möglicher „neuer Jerusalem-Moment“
Wenn Paul VI. und Athenagoras 1964 einen „Augenblick Gottes“ erlebten, so könnte die Begegnung von Leo XIV. und Bartholomaios 2025 ein neuer heiliger Moment werden – ein Zeichen dafür, dass der Heilige Geist die Kirchen weiterführt, tiefer zusammenführt und auf die Einheit hin sammelt. 

Der historische Ort Nikaia, der geistliche Erbe von 325 und die ökumenische Offenheit unserer Zeit könnten zusammen ein Ereignis hervorbringen, das in die Kirchengeschichte eingeht.

7.2 Nikaia als Ort der gemeinsamen Erinnerung
Das Konzil von Nikaia erinnert beide Kirchen daran, dass ihre Einheit älter ist als ihre Trennung. Hier wurde das Fundament gelegt, auf dem beide Kirchen noch heute stehen: das gemeinsame Bekenntnis zu Christus, dem eingeborenen Sohn Gottes, dem Retter und Herrn. Die Rückbesinnung auf diese gemeinsame Quelle ist nicht nostalgisch, sondern missionarisch: Eine Kirche, die ihre Wurzeln kennt, kann glaubwürdig in die Zukunft gehen.

7.3 Ein ökumenisches Zeichen für die Welt
Eine gemeinsame Präsenz in Nikaia wäre ein machtvolles Zeugnis dafür, dass die Kirche trotz aller geschichtlichen Spaltungen eine geistliche Einheit besitzt, die stärker ist als alle Verletzungen. Eine solche Geste hätte nicht nur kirchliche, sondern auch geopolitische Bedeutung: die christliche Botschaft von Frieden, Versöhnung und Wahrheit würde auf der Weltbühne neu hörbar.

7.4 Der Weg von 1964 zu 2025
Der Weg von Jerusalem 1964 nach Nikaia 2025 ist ein Weg des Heiligen Geistes. Er zeigt: Einheit wächst nicht durch menschliche Strategie, sondern durch Treue, Gebet, Demut und den gemeinsamen Willen, das Evangelium in seiner Wahrheit zu leben. Von Athenagoras zu Bartholomaios, von Paul VI. zu Leo XIV. spannt sich ein Bogen der Hoffnung – ein geistlicher Bogen, der auf die volle sichtbare Einheit der Kirche hinführt.

Am Ende bleibt die Erkenntnis: Die Einheit der Kirche ist weder Illusion noch Utopie, sondern eine Aufgabe, die Christus selbst seinen Jüngern hinterlassen hat: „Auf dass alle eins sind, damit die Welt glaubt.“ (Joh 17,21)

8. Schluss: Die bleibende Kraft des „Augenblicks Gottes“
Am Ende dieses ökumenischen Weges, der von Jerusalem 1964 bis nach Nikaia 2025 führt, steht eine geistliche Einsicht, die sowohl einfach als auch theologisch tief ist: Die Einheit der Kirche ist ein Geschenk Gottes. Sie ist älter als alle Trennungen, tiefer als alle historischen Verletzungen und stärker als jede kirchenpolitische Spannung. 

Der „Augenblick Gottes“, den Papst Paul VI. und Patriarch Athenagoras im Januar 1964 erlebten, war kein isolierter historischen Moment, sondern der Beginn eines neuen kirchlichen Bewusstseins: Einheit entsteht dort, wo Herzen sich öffnen, wo Demut die Führung übernimmt, wo die Wahrheit ohne Angst gesprochen und die Liebe ohne Vorbehalt gelebt wird.

8.1 Die spirituelle Hermeneutik der Ökumene
Wer den Weg seit 1964 betrachtet, erkennt: Fortschritte der Ökumene sind nie nur das Ergebnis von Dokumenten oder Kommissionen, sondern Frucht geistlicher Reifung. Die ökumenische Bewegung wächst durch Heiligkeit, durch Gebet, durch den Willen zur Vergebung und durch die Bereitschaft, sich gegenseitig als Brüder und Schwestern zu sehen. 

Athenagoras sagte zu Paul VI.: „Ich werde immer an Ihrer Seite sein.“ Dieser Satz ist nicht nur ein Ausdruck persönlicher Sympathie – er ist ein ökumenisches Programm.

8.2 Eine Kirche der versöhnten Vielfalt
Die Kirche der Zukunft wird keine uniforme Kirche sein, sondern eine versöhnte Vielfalt. Aus der Perspektive des ersten Jahrtausends – und aus den Worten der Kirchenväter – ist Vielfalt kein Hindernis der Einheit, sondern ihr Reichtum. Liturgische Vielfalt, unterschiedliche Traditionen, spirituelle Ausdrucksformen und lokale Synodalität sind kein Problem: Sie sind Ausdruck der Katholizität der Kirche.

Der ökumenische Fortschritt zeigt: Je tiefer Ost und West ihre eigene Tradition leben, umso näher kommen sie einander.

8.3 Die missionarische Aufgabe der Einheit
Die christliche Einheit ist kein Selbstzweck. Jesus verbindet sie im hohenpriesterlichen Gebet direkt mit der Mission: „Auf dass alle eins sind, damit die Welt glaubt.“ (Joh 17,21)

Eine glaubwürdige Kirche ist eine Kirche der Einheit. 
Eine Kirche, die gespalten bleibt, gibt ein unvollständiges Zeugnis. 
Eine Kirche, die in brüderlicher Liebe vereint ist, wird zum Licht in einer verwirrten Welt.

8.4 Der Weg geht weiter
Mit der geplanten Begegnung in Nikaia 2025 beginnt kein Abschluss, sondern ein neuer Anfang. Die Kirche lebt von der Dynamik des Heiligen Geistes, der sie unaufhörlich zur Einheit ruft. Die Aufgabe der kommenden Jahre wird sein, die synodale Kultur zu vertiefen, das gemeinsame Erbe der Väter neu zu entdecken und die Liebe Christi sichtbar zu machen.

Der Weg von Athenagoras zu Bartholomaios, von Paul VI. zu Leo XIV., ist ein Weg der Hoffnung. Er zeigt: Die Kirchen bewegen sich – langsam, manchmal schmerzlich, aber spürbar – aufeinander zu. Nicht aus politischem Kalkül, sondern aus geistlicher Notwendigkeit.

8.5 Die bleibende Einladung Christi
Am Schluss bleibt das Wort, das über allen ökumenischen Bemühungen steht – ein Wort, das keine Option ist, sondern Auftrag: „Auf dass alle eins sind.“ Diese Einheit ist nicht naiv, sondern theologisch begründet. Sie ist nicht oberflächlich, sondern tief. 

Sie ist nicht nostalgisch, sondern zukunftsorientiert. Sie ist nicht menschlich machbar, sondern göttlich geschenkt.

Darum endet der Weg nicht mit einem Punkt, sondern mit einer Einladung: weiterzugehen, zu beten, zu hoffen, zu vertrauen – und im Geist von 1964 zu leben. „Ja, Hand in Hand – für immer.“ 

Archimandrit Dr. Andreas-Abraham Thiermeyer ist der Gründungsrektor des Collegium Orientale in Eichstätt. Er ist Theologe mit Schwerpunkt auf ökumenischer Theologie, ostkirchlicher Ekklesiologie und ostkirchlicher Liturgiewissenschaft. Er studierte in Eichstätt, Jerusalem und Rom, war in verschiedenen Dialogkommissionen tätig. Er veröffentlicht zu Fragen der Ökumene, des Frühen Mönchtums, der Liturgie der Ostkirchen und der ostkirchlichen Spiritualität. Weitere kath.net-Beiträge von ihm: siehe Link.
 


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