„Immerhin: Wir haben endlich mal wieder einen lebendigen Parlamentarismus gesehen“

3. Februar 2025 in Kommentar


„Gegen den Willen der Mehrheit der deutschen Bevölkerung wurde die Wende in der Asylpolitik nicht eingeleitet. Das Spiel um die Schuld wird nur den politischen Extremen helfen.“ Gastkommentar von Prof. Riccardo Wagner


Berlin (kath.net) Viel Grund zur Freude hat es nicht gegeben in der letzten Sitzungswoche des Bundestages, die im Zeichen der Erinnerung an den Holocaust und der Debatte um die mögliche Verschärfung der Asylpolitik in Deutschland stand. Auf der Habenseite war zu verbuchen, dass wir endlich mal wieder einen lebendigen Parlamentarismus gesehen haben.

Auf der Soll-Seite steht, dass wir die vermutlich größte Wahlkampfveranstaltung für die AfD erlebt haben. Die politische Mitte hat sich unfähig zur Zusammenarbeit erwiesen. Gegen den Willen der Mehrheit der deutschen Bevölkerung wurde die Wende in der Asylpolitik nicht eingeleitet. Das Spiel um die Schuld wird uns nun die kommenden Wochen beschäftigen und auch an der Stelle nur den politischen Extremen helfen.

Dass dieser Extremismus inzwischen auch mit Macht in die Mitte drängt, hat der Blick auf die Debatten begleitenden Demonstrationen und die Kommunikation in den sozialen Medien gezeigt. Trotz der offensichtlich nicht vorhandenen Zusammenarbeit der CDU/CSU mit der AfD inszenierte die politische Linke ein hysterisches Spektakel, um Glauben zu machen, wir stünden erneut vor der historischen Machtübernahme einer faschistischen Rechten. Dabei kam es nicht nur zu zum Teil infamen Vorwürfen und Beleidigungen auch hochrangiger Mitglieder der Regierungsparteien gegenüber Politikern der CDU und FDP, die im Falle von Friedrich Merz zu Wiedergängern eines von Hindenburg oder Franz von Papen stilisiert wurden. Es kam auch erneut zu gewaltsamen Übergriffen gegen Mitarbeiter der CDU in ganz Deutschland, wobei von den Demonstranten auch gefordert wurde, dass diese sich selbst als Faschisten bezichtigen sollten. Im Zentrum stand dabei der Vorwurf, die Brandmauer, ein Begriff, der im Übrigen nicht von der CDU geprägt wurde, sei gefallen und dies sei ein historisch beispielloser und in seiner negativen Wirkung kaum absehbarer Akt. Dass die geforderten Gesetzesänderungen alle im Rahmen bisheriger Vereinbarungen und auch der gesetzlichen Möglichkeiten lagen, spielte für diese Rhetorik keine Rolle. Die Spaltung und wahlkamptaktische Zuspitzung des Lagerdenkens war wichtiger.

Was viele nicht zu verstehen scheinen: Die CDU Deutschlands IST die Brandmauer gegen die AfD. Das BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) aber versuchen aktuell, diese Brandmauer gemeinsam mit der AfD zu sprengen.

Das Problem: Demokratie gibt es nur mit Pluralität. Wenn wir keine rechte, bürgerliche und liberal-konservative Politik in Deutschland zulassen und ertragen und/oder die CDU nur noch Politik von Gnaden der Links-Grünen Parteien machen darf – wird es die CDU irgendwann nicht mehr in relevanter Weise geben. Dann haben wir Rechtsextreme auf der einen und eine Links-Grüne Einheitspartei auf der anderen Seite. Es kann nicht im Sinne des Pluralismus sein, wenn die Macht zu entscheiden, welche politischen Vorhaben das Siegel „demokratisch“ verdienen, beim Links-Grünen-Lager liegt. Vor allem dann nicht, wenn diese als zentralen Indikator betrachten, ob möglicherweise Stimmen von der AfD zu erwarten sind. Damit wäre die CDU im Zangengriff.

Die perfekte Polarisierung, die angeblich keiner will. Was das bedeutet, sehen wir in den USA. Dort laufen interessanterweise viele ähnliche Debatten, wie mit Migration und Asyl umzugehen sei. Vizepräsident J.D. Vance sorgte dabei jüngst für besonderen Wirbel, weil er, in Verteidigung von Trumps Deportationsvorhaben, sich explizit auf christliche Prinzipien berief.

Was sagt die katholische Soziallehre zum Thema Flucht und Migration?

So stellt sich hier, wie dort in der Tat aus christlicher Sicht immer wieder die Frage, welche Position einzunehmen sei. Blickt man auf die Prinzipien der christlichen Soziallehre, erkennt man zunächst, dass man sehr wohl zu unterschiedlichen Positionen kommen kann, abhängig davon welche Prinzipien besonders gewichtet werden. Anders als die von DBK und ZDK veröffentlichten Stellungsnahmen und Kommentare vermuten lassen, die sich gewohnt einseitig klar ins links-grüne Lager eingeordnet haben, kann das auch eine restriktivere Vorgehensweise rechtfertigen.

Die Diskussion bleibt dabei immer heikel, denn die Debatte über Asyl und illegale Migration in Deutschland ist aufgeladen wie kaum eine andere. Nicht einfach für Christen hier zu navigieren: Auf der einen Seite stehen jene, die für eine fast grenzenlose Aufnahme aller Migranten plädieren, auf der anderen jene, die möglichst viele Menschen abweisen wollen.

Doch weder eine rein emotionale Willkommenskultur noch ein kalter Abschottungsreflex können aus katholischer Sicht die richtige Antwort sein. Die Kirche lehrt eine Haltung, die sich an der Ordo Amoris, der „Ordnung der Liebe”, orientiert – einer Liebe, die sowohl Mitgefühl als auch Vernunft einschließt.

Was bedeutet die Ordo Amoris?

Diesen Begriff prägte der Heilige Augustinus und er wurde später von Max Scheler weiterentwickelt. Er beschreibt eine göttliche Ordnung der Liebe, in der Gott an erster Stelle steht, gefolgt von der Familie, der Gemeinschaft und schließlich der gesamten Menschheit. Liebe darf nicht wahllos oder willkürlich sein – sie muss geordnet sein, um gerecht zu bleiben. Papst Benedikt XVI. betonte in Deus Caritas Est, dass wahre Nächstenliebe nicht in blinder Sentimentalität besteht, sondern auch der Vernunft verpflichtet ist.

Migration und Nächstenliebe: Eine differenzierte Perspektive

Die Katholische Soziallehre verlangt Mitgefühl für Flüchtlinge, das ist unstrittig und nicht verhandelbar. Die Bibel ruft uns immer wieder dazu auf, Fremde gastfreundlich aufzunehmen. Doch Gastfreundschaft bedeutet nicht die Auflösung aller Grenzen. Schon der heilige Thomas von Aquin betonte, dass der Schutz der Gemeinschaft Vorrang hat und Migration geregelt erfolgen muss. Die Kirche verteidigt das Recht, in Würde zu migrieren (Pacem in Terris, Johannes XXIII.), erkennt aber ebenso das Recht der Staaten an, Migration zu regulieren.

Wer echten Flüchtlingen hilft, handelt christlich. Doch gleichzeitig lehrt uns die Ordo Amoris, dass die Verantwortung für die eigene Gemeinschaft nicht vernachlässigt werden darf. Staatliche Ordnung und soziale Stabilität sind kein Gegensatz zur christlichen Nächstenliebe, sondern ihre Voraussetzung. Papst Johannes Paul II. betonte in Centesimus Annus, dass eine gerechte Ordnung nicht durch unkontrollierte Bewegungen zerstört werden darf.

Illegale Migration: Ein Problem der Gerechtigkeit

Irreguläre Migration stellt den Rechtsstaat vor große Herausforderungen. Ein Land, das seine eigenen Gesetze nicht durchsetzt, untergräbt nicht nur die Sicherheit seiner Bürger, sondern auch die Gerechtigkeit gegenüber jenen, die legal einwandern. Augustinus sagte treffend: „Ohne Gerechtigkeit sind Staaten nichts als Räuberbanden.“ Wer sich für eine geregelte Migrationspolitik einsetzt, handelt also nicht gegen christliche Werte, sondern im Sinne einer geordneten Liebe.

Zugleich dürfen wir nicht vergessen: Die beste Migrationspolitik ist eine, die Menschen gar nicht erst zur Flucht zwingt. Die katholische Soziallehre betont das Prinzip der Subsidiarität: Probleme sollten dort gelöst werden, wo sie entstehen. Das bedeutet, dass der Fokus nicht nur auf der Aufnahme von Migranten liegen darf, sondern auch auf der Bekämpfung von Fluchtursachen. Entwicklungszusammenarbeit, faire Handelsbedingungen und die Unterstützung von Stabilität in Krisenregionen sind langfristig christlicher als bloße Notfallpolitik.

Die christliche Lösung: Weder Sentimentalität noch Härte, sondern geordnete Liebe

Was bedeutet das für die aktuelle Debatte? Christliche Positionen müssen sich von emotionalen Extremen abheben. Weder ein utopischer Universalismus noch ein nationaler Egoismus können die Antwort sein.

Stattdessen braucht es eine Politik der Ordo Amoris:

•    Hilfe für echte Schutzbedürftige, aber mit klaren Regeln.
•    Verantwortung für das Gemeinwohl und soziale Ordnung.
•    Bekämpfung von Fluchtursachen anstatt unkontrollierter Migration.

Eine christliche Sicht auf Migration bedeutet, nicht nur aus Mitleid zu handeln, sondern aus einer tiefen Verantwortung gegenüber Gott, dem Nächsten und der Gesellschaft. Eine geordnete Liebe – das ist die wahre Herausforderung in der heutigen Debatte. Das Prinzip der Ordo Amoris kann uns dazu in der aktuellen Debatte die dringend benötigte vernünftige Perspektive und Sachlichkeit wiedergeben.

Prof. Dr. Riccardo Wagner ist Professor für Nachhaltiges Management & Kommunikation an der Hochschule Fresenius in Köln, Leiter der Media School, Studiendekan sowie Autor. Er wurde 2024 in die volle Gemeinschaft mit der katholischen Kirche aufgenommen, worüber er im kath.net-Interview berichtet: Riccardo Wagner wurde katholisch: „Ich wollte nie Christ sein. Ich war Atheist“.

Weitere kath.net-Beiträge von und über Prof. Wagner: siehe Link

Archivfoto Prof. Wagner (c) Riccardo Wagner/privat


© 2025 www.kath.net