Digitalisierung und autonomes Fahren - Kein Raum ohne Ethik

7. November 2016 in Interview


Weihbischof Anton Losinger: Kirche muss moderne Welt mitgestalten. Interview von Thorsten und Victoria Fels (Katholische SonntagsZeitung/Neue Bildpost)


Augsburg (kath.net/Neue Bildpost/Katholische SonntagsZeitung) Der Augsburger Weihbischof Anton Losinger ist von Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) in eine neue Ethik-Kommission berufen worden. Diese befasst sich mit moralischen Fragen und Leitlinien des sogenannten autonomen Fahrens. Bei einem Besuch in der Redaktion von „Neue Bildpost/Katholische SonntagsZeitung“ erläuterte Losinger die ethische Problematik dieser neuen Technik: Autos, die selbst lenken und fahren.

Katholische SonntagsZeitung/Neue Bildpost: Herr Weihbischof, moralische Fragen und selbstfahrende Autos – auf den ersten Blick passt das nicht zusammen. Um welche Fragen geht es?

Losinger: Jeder Mensch, der Auto fährt, bewegt sich in der Welt und unter Menschen. Deswegen entsteht die Frage: Welche Verantwortung hat ein Mensch, der Auto fährt, gegenüber sich selbst und gegenüber den Menschen und der Welt, der er begegnet? Es ist völlig klar, dass in einer solchen Welt Unfälle passieren und damit die Frage entsteht, wie groß der Verantwortungsraum für einen Menschen ist, der sein Auto bewegt. Was wird aus dieser Verantwortung, wenn ein Mensch die Freiheit der Steuerung an ein digitales System überträgt? Zunächst einmal sind digitale Steuerungsinstrumente etwas Positives, weil sie Menschen von Problemen befreien, die man nicht ohne weiteres bewältigt. So würde niemand von uns heute ohne ein ABS-Bremssystem fahren wollen.

Was passiert aber, wenn ein digitales System die Steuerung eines Autos komplett übernimmt und damit auch die Freiheit, die ursprünglich der Mensch hatte? Wie steht es um Verantwortung und Haftung, wenn etwas passiert? Der Verkehrsunfall wird auch bei digitalen Steuerungssystemen nicht ausgeschlossen sein.

Die Themen, mit denen wir uns in der Kommission werden beschäftigen müssen, sind jetzt in der Klärungsphase. Da sitzt ein Kreis ausgewiesener Experten aus den Bereichen Technik und Wissenschaft, auch der Ethik und Philosophie und natürlich der Unternehmen und Verbände.

Klar muss uns eines sein: Die Lösungswege sind nicht allein bei der Justiz oder der Technik angesiedelt. Es muss eine ethische Leitlinienstruktur entwickelt werden, die Verantwortlichkeiten in diesem Verkehrsgeschehen definiert.

Eine weitere Frage ist, wer bei einem Unfall haftet. Der Autobauer? Der Halter? Der Fahrer? Der Käufer? Der Programmierer? Oder teilt man unter allen auf? Man müsste zur Aufklärung eine Blackbox einführen, auf der sämtliche fahrtechnischen Daten digital gespeichert werden, um zu klären, wer gesteuert hat. Damit allerdings zieht man eine ungeheure Datenspur durch die Welt. Es entstehen quasi „gläserne Fahrer“. Die Datensammlung führt ja dazu, dass Daten unterschiedlichster Herkunft auf einen Menschen hin kombiniert und durchleuchtet werden können.

Katholische SonntagsZeitung/Neue Bildpost: In der neuen Kommission sind Sie der einzige Theologe. Inwiefern werden die christlichen Werte bei der ethischen Einordnung der Technik Gewicht bekommen?

Losinger: Wir müssen nicht speziell von christlichen Werten sprechen. Menschenwürde und Lebensrecht sind Grundwerte unserer Verfassung. Auch im Entwurf einer Straßenverkehrsordnung muss man die Perspektive des Lebensrechts des Menschen und seiner Würde berücksichtigen.

Minister Dobrindt hat bereits unterstrichen, dass der Schutz des Menschen vor Sachbeschädigung geht. Wie es auch die katholische Soziallehre in „Rerum Novarum“ vorgibt: Die Ordnung der Dinge muss der Ordnung der Personen dienstbar gemacht werden. Ein Thema werden für uns auch Dilemma-Situationen sein. Wenn etwa eine junge Mutter mit ihrem Kinderwagen und eine ältere Dame mit Krücken die Straße überqueren und ein Bremsen nicht mehr möglich wäre: Wer muss geschützt werden, wer „darf“ überfahren werden? Oder wenn es zum Stau kommt und Menschen auf der Autobahn sind: Soll das Auto mit dem Fahrer in die Leitplanke rasen, um 20 Leute, die da stehen, zu beschützen? Soll ein Auto so entscheiden, dass es unter Umständen den eigenen Fahrer tötet, um andere überleben zu lassen?

Solche tragischen Zuspitzungen können im Grunde niemals gelöst werden. Klar ist nur: Niemals darf ein Mensch aufgrund persönlicher Merkmale bevorzugt oder benachteiligt oder gegen einen anderen aufgewogen werden. Das entspricht Artikel 1 unseres Grundgesetzes: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Kein Mensch darf die Würde des einen gegen die des anderen ausspielen

Wie könnten denn die Lösungen für solche Dilemma-Fälle aussehen? Oder wird es gar keine Lösungen geben? Solche extremen Situationen könnte auch ein Mensch als freier autonomer Selbstfahrer kaum beherrschen. Da stößt auch eine digitale Steuerung an ihre Grenzen. Die Leitlinien, nach denen sowohl ein Mensch als auch ein digital gesteuertes System in einer solchen Extremlage handeln müssten, sind eng begrenzt. Solche Dilemma-Situationen kommen allerdings vielleicht einmal in einer Million Fällen vor.

Katholische SonntagsZeitung/Neue Bildpost: Um eine der Grundfragen im Zusammenhang mit der neuen Technik – das Gegeneinanderaufwiegen von Menschenleben – ging es auch beim Fernsehspiel „Terror – Ihr Urteil“. Rund 86 Prozent der TV-Zuschauer sprachen den angeklagten fiktiven Kampfpiloten frei, der ein von Terroristen entführtes Flugzeug mit 164 Passagieren abgeschossen hatte, um die 70 000 Besucher eines Fußballstadions zu retten. Schließen Sie sich diesem Urteil an?

Losinger: Unter keinen Umständen! Niemals darf in unserer Rechtsphilosophie das Lebensrecht eines Menschen gegen das eines anderen aufgewogen werden. Wir müssen aber sehen, dass in der Wahrnehmung vieler Menschen ein deutlicher Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit besteht. Wenn man Recht in einer Verfassung konstitutiv fasst, müssen Prinzipien festgelegt sein, die immer gelten und sich dem Emotionalen entziehen müssen. Wenn Menschen emotionsgeleitet abstimmen und im Extremfall Grundrechte aushebeln, werden immer größere Problemsituationen entstehen.

Hier muss man im Blick auf die Grundlagen eines verfassungsmäßigen Rechtssystems sagen, dass das Grundprinzip der Nichtaufrechenbarkeit von Menschenleben immer gewahrt bleiben muss. Kein Mensch darf in seiner Freiheit und seinem Lebensrecht nach persönlichen Merkmalen bevorzugt oder benachteiligt werden. Letztendlich ist auch die Frage der Anzahl von Leben kein Kriterium, um darüber zu entscheiden, wer leben darf und wer nicht.

Katholische SonntagsZeitung/Neue Bildpost: Die TV-Zuschauer, die den Piloten freigesprochen haben, trafen demnach eine emotionale Entscheidung. Der Fall zeigt die Diskrepanz der Bewertungen durch „Durchschnittsbürger“ und Ethiker. Wenn Sie in die Zukunft blicken: Setzt sich die Haltung der Zuschauer durch oder die der Ethiker?

Losinger: Diese Frage ist rechtsphilosophisch höchst spannend. In allen Gerichten der Bundesrepublik ergeht der Rechtsspruch „im Namen des Volkes“. Also müsste das Volk bestimmten können, was Recht ist. Gleichzeitig haben wir aber in unserer Verfassung, dem Grundgesetz, Passagen, die auch durch eine Bundestagsmehrheit nicht geändert werden können. Dazu gehören die Grundrechte, nämlich der unantastbare Würdeanspruch jedes Menschen, das Recht auf Freiheit, das Lebensrecht und das Recht auf Gleichheit. Niemand würde gutheißen, dass über sein persönliches Lebensrecht im Bundestag abgestimmt werden darf.

Katholische SonntagsZeitung/Neue Bildpost: Am 11. September 2001 hatten US-Kampfjets nach dem Anschlag auf das World Trade Center den Befehl bekommen, gegebenenfalls weitere entführte Passagiermaschinen abzuschießen. In den USA hat man also offenbar weniger Skrupel, Leben gegen Leben abzuwägen ...

Losinger: Die Frage militärischer Auseinandersetzungen und terroristischer Bedrohungen öffnet noch einmal eine andere Situation und ein ganz neues Kriterienpaket. Vor allem die Ängste der Menschen und die Sorge um Leib und Leben treiben hier die Bewertungen an. Aber auch in diesen Bedrohungsszenarien muss ein Grundbestand von Humanität und Menschenrecht gelten! Das schreiben alle wesentlichen Menschenrechtskonventionen fest. Ohnehin ist die menschliche Bewertung von Risiken und Handlungsoptionen vielfach subjektiv.

Zum Beispiel: Im Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin untersucht Professor Gerd Gigerenzer, nach welchen Kriterien Menschen die Risiken bewerten, denen sie sich aussetzen. Seine Beobachtung: Viele Entscheidungen unseres Lebens folgen nicht rationalen und logischen Entscheidungskriterien, sondern sind vielfach intuitiv begründet. Sein Beweis: Am 11. September 2001, nach den Angriffen auf das World Trade Center, haben sich die Menschen im Umkreis von New York entschlossen, aus Angst vor dem Fliegen Auto zu fahren. Sie stuften das Risiko des Fliegens höher ein als das des Autofahrens. Das führte 2002 und in den Folgejahren in der Region zu einem entscheidenden Anstieg der Verkehrstoten, die die Zahl der Opfer durch den Einsturz des World Trade Centers weit übertraf. Dies zeigt, dass Menschen in der Einschätzung ihrer Lebensrisiken durchaus eine „irrationale Logik“ an den Tag legen.

Katholische SonntagsZeitung/Neue Bildpost: Zurück zum selbstfahrenden Auto: Könnten Sie sich vorstellen, später auch mal eines zu nutzen?

Losinger: Ich gebe zu, dass ich gerne selbst fahre. Ich habe als Weihbischof einen Chauffeur, der mir sehr gute Dienste leistet, weil ich sehr viel unterwegs bin. Da bin ich wirklich froh, jemanden zu haben, der mich fährt. Aber ich sehe auch die Möglichkeit, dass ein digital gesteuertes Fahren eine große Erleichterung bieten kann. Und ich bin schon sehr gespannt darauf, wenn ich demnächst eine Testfahrt mit einem autonomen Fahrzeug machen darf. Auch ein Sicherheitsargument sollte genannt werden. Eine der Hauptursachen für Unfälle ist menschliches Versagen. Dies könnte durch technische Hilfsmittel wie in einem selbstfahrenden Auto deutlich entschärft werden. Ein ABS-Bremssystem verhindert bereits schwere Unfälle, ein Airbag kann Leben retten. Insofern denke ich prinzipiell positiv über die Möglichkeiten, die wir heute haben. Niemand möge sich nostalgisch zurücksehnen.

Ich glaube, dass das autonome Fahren kommen wird und uns in vielen Bereichen gute Dienste erweisen kann. Ein Beispiel ist die Steuerung von Lkw-Kolonnen auf den Autobahnen. Hier geschehen bislang immer wieder gravierende Auffahrunfälle in Stau-Enden.

Die Befürchtung, dass die Fahrer dann arbeitslos werden, ist unbegründet. Sie werden eine andere Qualität von Arbeit erledigen, so wie heute schon überall, wo Menschen mit Computern arbeiten. Die Arbeit wird nicht weniger, sondern anders.

Durch die Digitalisierung des Arbeitsmarkts haben wir es mit dramatischen Änderungen und einer ganz neuen Struktur von Arbeit zu tun. Viele Menschen werden sich mühsam und wohl auch schmerzlich an die temporeiche Umänderung der Wirklichkeit, in der sie leben, gewöhnen müssen.

Katholische SonntagsZeitung/Neue Bildpost: Vielen Menschen machen solche Veränderungen Angst ...

Losinger: Das ist auf jeden Fall richtig. Was mich aber selber wirklich immer wieder überrascht, ist das massive Interesse an diesen Entwicklungen.

Ich glaube, dass wir über das autonome Fahren hinaus die Gesamtfrage der digitalen Welt auf dem Radarschirm behalten müssen: Welche dramatischen Umwälzungen wird die Digitalisierung für unsere Gesellschaft mit sich bringen? Da sind wir doch längst an einem Übergang angelangt wie von der Postkutsche zum Autozeitalter. Das bringt natürlich auch ganz neue gesellschaftliche Herausforderungen mit sich, mit denen sich die Politik gleichermaßen wie die Ethik und auch die Kirche beschäftigen müssen.

Es ist entscheidend, dass wir ethisch „am Ball“ bleiben, denn es gibt auch in dieser modernen digitalen Welt keinen technischen Bereich, der ethikfrei wäre.

Wir müssen uns bei all den Dingen, die Wissenschaft und Technik auf den Weg bringen, fragen: Was ist hier am Kommen? Was ist wahr, was ist falsch? Was ist gut, was ist schlecht? Und mit welchen Konsequenzen können wir leben? Einen ethikfreien Raum gab es nie und wird es auch in Zukunft nicht geben.

Gerade als Kirche müssen wir die heutige Welt mit ihren Strukturwandlungen wahrnehmen und gestalten. Die Kirche tut gut daran, wenn sie sich hier in möglichst vielen Diskussions- und Entscheidungsräumen einbringt. Wir brauchen nicht das, was Papst Leo XIII. einmal im Umfeld seiner berühmten Sozialenzyklika „Rerum Novarum“ ein „Sakristei-Christentum“ nannte. Was wäre gewesen, wenn die Kirche übersehen hätte, dass mit der Industriegesellschaft etwas dramatisch Neues entstanden war? Dass sich ganz neue Fragen zu Kapital und Arbeit ergeben haben? Dass die Kernfrage jeder Entwicklung beantwortet werden musste: Wie können Menschen in dieser neuen Situation gerecht und menschenwürdig leben?

Wie gut, dass die Kirche damals wie heute ihre Verantwortung wahrnimmt und an vorderster Front mitmischt!

kath.net dankt der Mediengruppe Sankt Ulrich Verlag für die freundliche Erlaubnis, dieses Interview aus der Ausgabe Nr. 44 vom 5./6. November in voller Länge übernehmen zu dürfen.

Archivvideo – Weihbischof Anton Losinger (damals noch Mitglied des Deutschen Ethikrates): Wann ist ein Mensch tot?


Foto Weihbischof Losinger (c) Bistum Augsburg


© 2016 www.kath.net